2017 Fokus Québec: Cinéma vagabond

Kino der Vagabunden

Kurzfilme sind oft Stilübungen, Appetitanreger, eine Art Aufnahmeritual oder Leiter auf dem Weg zum Spielfilm. Manche finden, erst durch das Drehen von Kurzfilmen wird jemand zum Filmemacher. Wir bei La Distributrice glauben, man muss schon ein Filmemacher sein, um Kurzfilme machen zu können. Die sechs Regisseure, die Sie hier entdecken, haben das Zeug dazu. 

Die Filmemacher der sechs Filme dieses Programms kommen zwar alle aus Montréal, sie zeigen jedoch kein einziges Bild von der Stadt oder den Vororten – und nicht einmal Schnee, Eisbahnen, Zuckerhütten, Ahornblätter, Hipster oder Bagels. Drei Filme wurden außerhalb Kanadas gedreht – in Haiti, Panama und mitten im Ozean –, einer ist ein Animationsfilm und in den anderen beiden gibt es nur Innenaufnahmen. Gilles Vigneault, einer unserer Nationalheiligen, sang einmal: „Mein Land ist kein Land, es ist der Winter.“ Für Filmemacher aus Québec ist das Land, das sie filmisch erforschen und erobern, immer durch Zeit, Gefühle und Stimmungen definiert, niemals durch Raum. 

Ein anderer Aspekt in Filmen aus Québec ist die Identität – und vor allem ihre Darstellung in Form von Anderssein. Die Filmemacher dieses Programms erkunden andere Identitäten, indem sie aus ihrer eigenen ausbrechen (THE CRYING CONCH, THE LAST DAY, RED OF THE YEW TREE), sie nach innen kehren und in ihr untergehen (TOWARDS THE COLONIES) oder sie konfrontieren und ihre Überbleibsel zerschmettern (NIGHT FLIGHT, SIGISMOND IMAGELESS). Das Publikum wird beim Verlassen des Kinos vielleicht nicht viel über Québec erfahren haben. Aber ganz bestimmt wird es neugierig.

Serge Abiaad / La Distributrice de Films

Die Filme

IF OU LE ROUGE PERDUE (RED OF THE YEW TREE), Marie-Hélène Turcotte (Animation, Kanada, 2016)

Eine Fasanenjagd ist der Anlass für eine Reise, schwierig und aufwühlend zugleich, unter dem Schutzmantel mütterlicher Liebe.

VERS LES COLONIES (TOWARDS THE COLONIES), Miryam Charles (Experimental, Kanada, 2016)

Als ein junges Mädchen tot vor der Küste Venezuelas gefunden wird, will ein Gerichtsmediziner die Todesursache feststellen, bevor sie nach Hause überführt wird.

VOL DE NUIT (NIGHT FLIGHT), Clara L’Heureux-Garcia (Dokumentation, Kanada, 2016)

UQAM. Die University of Québec in Montréal. Die „neue“ Uni. Während der nächtlichen Waffenruhe erwecken Worte die schlafende Szenerie zum Leben.

SIGISMOND SANS IMAGES (SIGISMOND IMAGELESS), Albéric Aurtenèche (Fiktion, Kanada, 2016)

Sigismond Langlois wird wegen seines aggressiven Verhaltens einem psychologischen Test unterzogen. Er gibt vor, ohne Bild von sich geboren zu sein. Während der Befragung erzählt er vom Leben eines jungen Mannes, der sich nie gesehen hat, weder im Spiegel noch auf Fotos. Deshalb bezweifelt er, überhaupt zu existieren.

LE DERNIER JOUR (THE LAST DAY), Frédéric St-Hilaire (Fiktion, Kanada, 2016)

Ein Junge taucht aus dem Meer auf. Vor ihm liegt eine Vulkan-Insel. In dieser Welt existiert die Zeit nicht, es ist ein Ort, der von seinen eigenen Erinnerungen geformt wird. Hier kann er wieder und wieder erleben, was schon vergangen ist.

LE CRI DU LAMBI (THE CRYING CONCH), Vincent Toi (Fiktion, Kanada, 2016)

Ein Mann wird in die Fußstapfen des haitianischen Sklavenanführers Mackandal hineingezogen.

Außerdem im Programm:

Tribut und Masterclass mit Denis Côté

Denis Côté ist der „germanischste“ aller Filmemacher aus Québec. Seine hohe Produktivität erinnert an Fassbinder, seine kalte und präzise Beobachtungsga- be liebäugelt mit dem Kino Ulrich Seidls, sein unkonventioneller Stil kann ein- schüchternd wirken wie ein Roman von Peter Handke. Wie Herzog wechselt er von Fiktion zu Dokumentation (manchmal innerhalb eines Filmes), und sein mystischer, poetischer Blick auf Außenseiter ist angelehnt an Johan van der Keukens dokumentarische Arbeit. Côté fährt zweigleisig: Er wechselt zwischen Filmen mit bescheidenem Budget, in denen er narrative Erzählformen konstru- iert und wieder zerlegt (CURLING, VIC + FLO, BORIS SANS BÉATRICE), und No-Budget- Filmen, die uns auffordern, an seinen Beob- achtungen teilzuhaben (BESTIAIRE, QUE TA JOIE DEMEURE, TA PEAU SI LISSE, QUE NOUS NOUS ASSOUPISSIONS).

Côtés Filme laden den Zuschauer ein manchmal zwingen sie ihn –, sich des Gesehenen bewusst zu werden, indem sie eine
intime Beziehung zwischen ihm und dem Thema herstellen. Seine Filme können zum Verzweifeln obskur, aber auch überwältigend poetisch sein. Côtés frühere Arbeit als Filmkritiker hat ihm eine präzise Herangehensweise ans Filmemachen verliehen. Jeder Film, den er seit LES ÉTATS NORDIQUES (2005) gedreht hat, war eine leichte Abwandlung des vorhergehenden; mit je- dem neuen Experiment setzt er sich einem Risiko aus, indem er seine Fähigkeiten als Filmemacher weiter auslotet, um die Grenzen des Geschichtenerzählens und unsere Beziehung zum Film auszuweiten.

Serge Abiaad

 

Die Filme

LES LIGNES ENNEMIES (THE ENEMY LINES), Denis Côté (Fiktion, Südkorea/Kanada 2010)

Sechs Männer. Ein Wald. Die Gefahr lauert irgendwo. Bewaffnet, bereit und voller Tatendrang suchen sie Tag und Nacht nach Konfrontation. Es ist eine Schande, Männlichkeit zu verschwenden.

QUE NOUS NOUS ASSOUPISSIONS (MAY WE SLEEP SOUNDLY), Denis Côté (Fiktion, Kananda 2015)

Der Winter hält an. Etwas ist passiert. Im Herzen der Wälder, tief in den Bergen, auf den Straßen und sogar in den Häusern ist es auf einmal merkwürdig still. Wird irgendwo noch eine Seele bleiben, die das Ereignis bezeugen kann?

EXCURSõES (AQUI EM LISBOA) (EXCURSIONS (HERE IN LISBON), Denis Côté (Fiktion, Portugal/Kanada 2015)

In Lissabon bietet Claudia Führungen innerhalb und außerhalb der Stadt an. Nachts vertreibt sie sich die Zeit mit ihrer Schwester in einem kleinen Apartment. Der einsame Martinho spricht fließend Italienisch und führt Touristen durch die Stadt. Nachts sieht er sich Dokumentarfilme im Internet an und beschäftigt sich mit Astronomie. Eine Band improvisiert Noise Jazz. Etwas Geheimnis- volles liegt in der Luft. Claudias und Martinhos einsame Herzen begegnen sich zu den Klängen der Musik.